Realismus: Das Gesicht der eigenen Epoche

Realismus: Das Gesicht der eigenen Epoche
Realismus: Das Gesicht der eigenen Epoche
 
Vor den Toren der Pariser Weltausstellung errichtete der französische Maler Gustave Courbet 1855 einen Pavillon, in dem er eigene Bilder zeigte. Mit dieser beispiellosen Aktion demonstrierte er selbstbewusst seinen ungebrochenen Behauptungswillen gegenüber einer Jury, die mehrere seiner Werke von der Präsentation zeitgenössischer Kunst auf der Weltausstellung ausgeschlossen hatte. Über dem Eingang des Pavillons stand »Gustave Courbet - Le réalisme«. Zum ersten Mal in der Geschichte definierte ein Maler seine Kunst als »Realismus«. Damit wurde Courbet endgültig zur berühmt-berüchtigten Galionsfigur dieser Kunstrichtung, die nach der idealisierenden Weltsicht des Klassizismus einerseits, nach den Visionen und Gefühlen der Romantik andererseits eine Annäherung von Kunst und Lebenswirklichkeit forderte. Vor allem französische Theoretiker wie Jules Champfleury und Louis-Edmond Duranty diskutierten den »Realismus«. In ihren heftig geführten Auseinandersetzungen mit der konservativen Presse wurde »Realismus« zum politischen und künstlerischen Kampfbegriff, meist bezogen auf die provokativen Werke von Courbet oder Honoré Daumier.
 
Realistische Züge, den Anspruch genauer Naturbeobachtung und lebensnaher Darstellung, gab es schon in der Kunst früherer Epochen. Vorbilder fanden die realistischen Künstler des 19. Jahrhunderts in der Spätgotik und Renaissance bei Albrecht Dürer und Hans Holbein dem Jüngeren, bei den Spaniern und Holländern des 17. Jahrhunderts sowie in der englischen Malerei und Grafik des 18. Jahrhunderts. Im 19. Jahrhundert kündigte sich der Realismus bereits in der Landschafts- und Genremalerei der Romantik und des Biedermeiers an: Statt erfundener Ideallandschaften oder historischer Szenen präsentierten Maler wie Camille Corot, Karl Blechen und Carl Spitzweg die heimische Natur oder beschauliche Momente aus dem zeitgenössischen Familien- und Alltagsleben.
 
Der Realismus entwickelte sich zwischen 1830 und 1870 fast überall in Europa und Nordamerika. Neben einer steigenden Zahl realistischer Bilder dominierten in diesen Jahrzehnten aber nach wie vor noch spätklassizistische und romantische Werke. Diese Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Kunstrichtungen ist charakteristisch für das 19. Jahrhundert. Nach dem Revolutionsjahr 1848 wurde der Realismus von einer Unterströmung zur breiten internationalen Bewegung, die hinsichtlich Stil, Themenwahl und sozialer Absicht höchst vielfältige Züge trug. Massive, durch die bürgerliche und die industrielle Revolution ausgelöste soziale Veränderungen, die wachsende Vormachtstellung des Bürgertums und seine Abgrenzung gegenüber Bauern und Arbeitern, die Weber- und Arbeiteraufstände als Folge unzumutbarer Lebensbedingungen, die Verstädterung sowie die Demokratisierungs- und Einigungsbestrebungen in zahlreichen Staaten bildeten den gesellschaftlichen Nährboden realistischer Kunst und begründeten ihren Anspruch, die zeitgenössische Alltagswirklichkeit, das Gesicht der eigenen Epoche festzuhalten.
 
Die meisten realistischen Künstler mieden Themen aus der Mythologie, der Bibel oder der Literatur und malten stattdessen Genrebilder - Darstellungen typischer Szenen aus dem familiären und bäuerlichen Alltags- und Arbeitsleben -, Porträts und Stillleben. Die Landbevölkerung bei ihren Festen und ihrer Feldarbeit, Jagd-, Küchen- und Kneipenszenen, spielende und lernende Kinder, Hochzeiten und Begräbnisse wurden nun bildwürdig. Auch der städtische Alltag der bürgerlichen Schichten und die Welt des Theaters, der Justiz und des Klerus lieferten Motive für realistische Bilder. Durch die scharfe Beobachtung charakteristischer und entlarvender Einzelheiten tragen vor allem die Werke von Daumier und Adolph Menzel oft parodistische Züge. Die Lebens- und Arbeitssituation der Arbeiter wurde hingegen seltener dargestellt; auch Menzels »Eisenwalzwerk« (1875) zeigt weniger die elenden Arbeitsbedingungen in einer Fabrik als vielmehr die faszinierende Leistungsfähigkeit der Industrie.
 
Der Realismus erweiterte jedoch nicht nur das Themenspektrum des 19. Jahrhunderts um die Bereiche des zeitgenössischen Alltags, sondern brach auch mit alten, idealisierenden Darstellungsmustern. Courbet zeigte beliebte traditionelle Motive in bewusstem Gegensatz zur akademischen Konvention: Weibliche Akte, die in der Salonmalerei jener Jahre scharenweise als makellose Venusgestalten oder erotische Odalisken auftraten, erschienen bei ihm als einfache nackte Mädchen. Jean-François Millets Schäferinnen waren keine graziösen Landschönheiten, sondern arbeitende Kinder. In seinem auf akribischer Geschichtsforschung beruhendem Gemäldezyklus über das Leben Friedrichs II., des Großen, unterwanderte auch Menzel akademische Normen, indem er den verehrten König in privaten und historisch wenig glorreichen Momenten darstellte. Menzels lithographische Illustrationen und Gemälde zu Friedrichs Taten sind ein Beispiel dafür, dass auch historische Themen im Sinne einer realistischen Kunstauffassung gemalt werden konnten, wenn sie ideale Erwartungen inhaltlich und formal enttäuschten.
 
Denn die Kunst des Realismus definierte sich auch aus dem Widerstand gegen eine idealistische Kunstauffassung, wie sie allen historischen Veränderungen zum Trotz an den meisten europäischen Akademien hartnäckig beibehalten wurde. Diesem Idealismus Wahrheitstreue und Natürlichkeit entgegenzusetzen, war sowohl ein ethisch-moralischer als auch ein kunstprogrammatischer Anspruch der Realisten. Maler wie Courbet, Daumier und Menzel wollten die Realität nicht nach vorformulierten Idealen und Gestaltungsregeln überhöhen oder vervollkommnen, sondern die sichtbare Wirklichkeit ungeschönt darstellen, selbst von ihren gewöhnlichen und hässlichen Seiten. Die klassische Antike hatte als Schönheitsideal ausgedient. Aber auch die romantische Suche nach Schönheit in einer gefühlsbetonten Sicht oder dramatischen Vision der Welt lehnten die Realisten grundsätzlich ab. Sie legten ihren Werken vielmehr die rationale, sachliche Beobachtung der sichtbaren und tastbaren, der materiellen Wirklichkeit zugrunde. Dies entsprach dem ausgeprägten Tatsachensinn der modernen Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert und der zeitgenössischen Philosophie des Positivismus, die nur das, was mit den Sinnen wahrnehmbar ist, für real erachtete. Der Realismus wurzelte tief im Vernunft- und Fortschrittsglauben der bürgerlichen Gesellschaft, ihrem Materialismus und ihrer daraus erwachsenden Sehnsucht nach Natürlichkeit und Natur.
 
Der Realismus war kein einheitlicher Stil. Seine Bandbreite reicht von den oft minutiösen, gestochen scharfen Gegenstandsschilderungen in Menzels Zeichnungen bis zu den farbig-atmosphärischen, stark vereinfachenden Gemälden Daumiers. Akribische Detailgenauigkeit ist kein zwingendes Kennzeichen realistischer Kunst, sondern konnte ebenso gut im Dienst einer idealistischen Kunstauffassung stehen. Gerade in den vielen nur pseudorealistischen Genrebildern der Salons und Akademieausstellungen, die den Alltag zur heilen Welt veredelten und mit sentimental-moralisierenden Anekdoten würzten, entsprach eine saubere, detailverliebte Malweise den bereinigten Inhalten. Die inhaltlich fortschrittlichen und kritischen Maler jedoch wandten der akademischen, auf exakte Zeichnung und glatte Feinmalerei fixierten Ausbildung oft den Rücken zu: Sie lernten von den Werken früherer Epochen in den Museen und von zeitgenössischen Vorbildern oder schulten Hand und Auge durch die Beobachtung der Realität.
 
Vor allem Courbets charakteristische Malweise, sein energischer und summarischer Farbauftrag mit dem breiten Pinsel oder Spachtel, und seine durch Schwarz gedämpften Farbtöne wurden von zahlreichen jüngeren Malern aufgegriffen. Die Künstler der Frankfurter Malergruppe um Victor Müller und Otto Scholderer sowie des Münchner Kreises um Wilhelm Leibl, Hans Thoma, Carl Schuch und Wilhelm Trübner lösten sich unter dem Schlagwort des »rein Malerischen« mit einem sichtbaren Farbauftrag und gewöhnlichen Motiven von den akademischen Konventionen. Ebenso wie ihr Vorbild Courbet wurden sie von der konservativen Presse als »unfähig«, ihre Bilder als »hässlich und belanglos« beurteilt. Auch die jungen italienischen Maler, die sich um 1860 zu realistischen Prinzipien bekannten und, angeregt durch das Vorbild der Schule von Barbizon, mit lockerem Pinselstrich kleine, hellfarbige Alltagsszenen malten, erhielten den keineswegs freundlich gemeinten Beinamen »Macchiaioli«: »Fleckenmaler«.
 
Realistische Kunst bestand in ihrer fortschrittlichen Form nicht im Versuch, Realität im Bild zu verdoppeln. Das Bedürfnis nach genauer Abbildung konnte seit der Mitte des 19. Jahrhunderts ein ganz neues, mit der Malerei konkurrierendes Medium erfüllen, die Fotografie. Realismus bedeutete oft vielmehr eine Verknappung oder sogar Konstruktion von Wirklichkeit mit dem Ziel, die Wahrnehmung von Realität zu vertiefen oder hinter der sichtbaren eine unsichtbare Wirklichkeit zu enthüllen. Auch eine scheinbar neutrale Darstellung des Äußeren konnte innere Widersprüche aufdecken - etwa wenn Menzel in seinen detailreichen Stadtszenen die moderne Welt in beunruhigender Weise als Summe unzähliger, zusammengesetzter Fragmente darstellte.
 
Viele realistische Künstler befürworteten liberale und demokratische Ideen und wollten ihrer Kunst eine gesellschaftliche Funktion geben. Mehr noch als die Romantik, die den Betrachter über seine Gefühle statt über seinen Bildungsstand ansprechen wollte, strebte der Realismus durch alltägliche Motive und eine einfache, jedermann verständliche Formensprache eine Demokratisierung von Kunst an. Mit erschwinglicher Druckgrafik, der Organisation von Provinz- und Wanderausstellungen und der Gründung von Kunstvereinen wandte man sich an neue, breitere Publikumsschichten. So schickten die »Peredwischniki«, eine 1870 in Sankt Petersburg gegründete Genossenschaft junger Maler um Iwan Kramskoj, ihre realistischen, sozialkritischen Werke auf Reisen durch ganz Russland. Ein offenes Bekenntnis zum Sozialismus und zur Kunst als intellektueller Waffe, wie es Courbet und Daumier äußerten, blieb jedoch die Ausnahme. Weder Courbet noch Daumier ging es dabei aber - wie etwa dem Sozialistischen Realismus des 20. Jahrhunderts - um klassenkämpferische Propaganda oder um die Formulierung von sozialen Utopien. Die Realisten des 19. Jahrhunderts beharrten auf einer individualistischen, antidoktrinären, ja zuweilen anarchistischen Haltung. Sie wollten vor allem festgefahrene Konventionen und Ansichten infrage stellen - in der Gesellschaft ebenso wie in der Kunst.
 
In der Druckgrafik kamen aktuelle, sozialkritische Themen meist deutlicher zur Sprache als in der Malerei. Viele bedeutende Maler, Radierer und Stecher gaben der Grafik, die lange nur als Reproduktionsmittel gegolten hatte, wieder ihre volle künstlerische Bedeutung - etwa James Abbott McNeill Whistler und Francis Haden in London, Alphonse Legros und Gustave Doré in Paris oder Menzel in Berlin. Besonders die politisch-gesellschaftskritischen Grafiken und Karikaturen von Daumier gehören zu den bedeutendsten Werken des Realismus. Seit den Dreißigerjahren lithographierte Daumier Tausende von Blättern, vor allem für die illustrierten Zeitschriften des Verlegers Charles Philipon, »La Caricature« und »Le Charivari«. Zusammen mit seinen Landsleuten Paul Gavarni und Grandville sowie den englischen Karikaturisten des »Punch« - zum Beispiel George Cruikshank und Charles Samuel Keene - erhob Daumier die Karikatur zu einem ebenso kritischen wie wichtigen Beitrag der Kunst.
 
Die akademische Rangordnung stellte dagegen noch immer das großformatige, idealisierende Historienbild in der Art eines Thomas Couture oder Karl von Piloty an die Spitze. Realistische Genre-, Landschafts- oder Stilllebenmalerei galt ihr als niedrige Gattung. Das bürgerliche Publikum jedoch schätzte die Alltagsthemen, die nüchterne Weltsicht und nicht zuletzt die meist handlichen und damit erschwinglichen Formate der realistischen Kunst - allerdings nur, solange es nicht zu jäh mit den abstoßenden Seiten der Wirklichkeit konfrontiert wurde oder sich mit einer neuartigen Darstellungsform auseinander setzen musste. Viele Maler reagierten auf die Ablehnung und Geringschätzung mit der Anpassung an den Publikumsgeschmack und die akademischen Standards. Engagierten Realisten blieb oft nur der Rückzug aufs Land oder in die Welt der Boheme: So wurden nicht selten jene Maler, die mit ihrer avantgardistischen Kunst soziale Veränderungen bewirken wollten, in eine gesellschaftliche Außenseiterrolle gezwungen. Für jüngere Kollegen jedoch, die ihrerseits Kunst und Welt erneuern wollten, waren gerade sie die wesentlichen Vorbilder.
 
Dr. Friederike Kitschen
 
 
Börsch-Supan, Helmut: Die deutsche Malerei von Anton Graff bis Hans von Marées. 1760—1870. München 1988.
 Busch, Werner: Das sentimentalische Bild. Die Krise der Kunst im 18. Jahrhundert und die Geburt der Moderne. Sonderausgabe München 1997.
 Europäische Kunst im 19. Jahrhundert, Band 2: Cachin, Françoise: 1850—1905. Realismus, Impressionismus, Jugendstil. Aus dem Französischen. Freiburg im Breisgau u. a. 1990—91.
 Hofmann, Werner: Das irdische Paradies. Motive und Ideen des 19. Jahrhunderts. München 31991.

Universal-Lexikon. 2012.

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